Radikale oder disruptive Innovationen sind für junge Unternehmen oder Startups deutlich einfacher zu handhaben als für etablierte Unternehmen. Für sie ist es die Chance, heißt sein oder nicht sein und alle Kraft wird auf das eine Ziel ausgerichtet. Die etablierten Unternehmen hingegen verfügen bereits über erfolgreiche Produkte, stabile Kundenbeziehungen sowie entsprechende Ergebnisbeiträge und haben demgemäß viel mehr zu verlieren. Die Entscheidung erfordert den richtigen Zeitpunkt zu finden, seine knappen Know-how-Träger effektiv zu nutzen, das Produktportfolio optimal auszuschöpfen und nicht zuletzt Kundenentwicklung zu betreiben. Gerade Großunternehmen wie Konzerne tun sich mit radikalen Innovationen besonders schwer. Das Problem ist weniger das Erkennen der neuen Technologien und seiner Potentiale, denn die Experten sind meist im Hause. Das größere Problem ist die Umsetzung aufgrund der definierten Geschäftsziele, heterogenen Organisationsinteressen, der aufwendigen innovationskritischen Prozesse und der Kunden. Die relevanten Barrieren für die Arbeit an und mit disruptiven Technologien beginnen beim Bestandskunden.
Die Kunden und insbesondere die Key-Accounts
Haben die Key-Accounts in die Produkte und Lösungen eines Anbieters investiert, so möchten diese Kunden natürlich ihre Investition schützen. Der Macht der Key Accounts ist enorm. Ihr erstes Interesse ist die Weiterentwicklung bestehender Technologien und Produkte. Verstärkt wird dieser Effekt durch die S-Kurven-Theorie neuer Technologien. Typischerweise sind neue Technologien in ihrer Entstehung noch leistungsschwächer als die etablierten Lösungen und die Key Accounts werden in der Regel weder eine funktionalen Rückschritt oder teure Migrationskonzepte akzeptieren. Meist werden deshalb disruptive Innovationen auch in neuen Anwendungsfeldern und Zielgruppen zum Einsatz kommen, bevor sie in einem zweiten Schritt die etablierten Produktlinien substituieren können. Ein schönes Beispiel war die Substitution der ISDN-Technologie durch die IP/IT-Welt. Funktional war ISDN in der Fernmelder-Welt sehr anerkannt. Features wurden im Überfluss geboten. Die IP-Technologie war zunächst funktional deutlich unterlegen, konnte ihren Siegeszug aber über Kostenvorteile in den IT-Abteilungen der Unternehmen beginnen, ist heute Standard und über fehlende Funktionen oder niedrigere Sprachqualität redet niemand mehr.
Die eigene Vertriebsorganisation
Auch die eigene Vertriebsorganisation ist von Natur aus kein Freund von radikalen Innovationen. Ihre Liebingskonstellation ist der direkte Verkauf etablierter, funktional und qualitativ ausgereifter Produkte und Lösungen. Der klare Vorteil ist die Chance zum Absatz möglichst großer Mengen mit möglichst geringem Aufwand. Dies ist auch nachvollziehbar, da das Einkommen der Vertriebskollegen stark erfolgsabhängig gesteuert ist. Neue, besonders innovative Produkte erfordern meist ein Babysitting sowohl aus technischer Sicht als auch aus Kunden- und Anwendungssicht. Innovative Kunden erwarten einfach eine intensive Unterstützung des Anbieters. Die Vertriebsorganisation muss also Zeit und Ressourcen einbringen, die an anderen Stellen für weitere Geschäfte fehlen. Auch erfordert das vertriebliche Beherrschen der neuen Technologien viel Zeit und das Erkennen bzw. Bewerten des Anwendernutzen ist kein Selbstläufer.
Ein grundsätzliches Risiko ist, den Kunden aufgrund entstehender technischer Probleme zu verlieren. Viele erfolgreiche Account Manager sind demgemäß eher zurückhaltend bei radikalen Innovationen. Nicht überraschenderweise denken sie ähnlich wie viele ihrer Key-Accounts.
Ein zusätzlicher Aspekt ist der Wahl des Vertriebsweges, die Bedrohung für einen klassischen Direktvertrieb sein kann. Disruptive Innovationen starten häufig in Nischen und erfordern kompetenz- und kostenoptimierte Vertriebskonzepte. Beispiele aus der Automobilwelt sind die Elektromobile von Tesla mit der primären Vermarktung über das Internet oder die Vermarktung von Elektromobilen als Stadtfahrzeuge für Logistikunternehmen wie z.B. Streetscooter.
Die Produktmanagement- und Entwicklungs-Prozesse
Die Prozesse zur Gestaltung neuer Produkte sind in vielen Unternehmen sehr detailliert, fixiert und starr. Gestützt werden in diesen Prozessen lineare Weiterentwicklungen. Die einzelnen Kundenwünsche können recht gut erfasst und entwicklungstechnisch bewertet werden. Aufgrund des vorhandenen Wissen über die technischen Anforderungen und vertrieblichen Absatzmöglichkeiten sind Business Case und Projektplanung kein Hexenwerk. Die Umsetzung beinhaltet dann beherrschbare Prozessschritte.
Anders sieht es bei disruptiven Innovationen aus. Viele Dinge sind unsicher und es erfordert ein ausgeprägtes Unternehmertum die Entscheidung zum Projektstart zu treffen. Risikoabschätzungen, die Sicherheit bringen sollen, können zu massiven Risikoabschlägen führen und lassen manche Projekte sterben bevor sie begonnen sind. Der Entwicklungsaufwand ist meist beträchtlich und das Risiko zu scheitern bleibt immanent. Problem kann die späte Einsicht des Scheiterns sein, da grundsätzliche Entwicklungsherausforderungen gerne im Entwicklungsprozess nach hinten gelegt oder verschoben werden.
Im Zweifelfall führen die viele Beteiligten aus den unterschiedlichen Organisationseinheiten nicht zu besseren Entscheidungen. Funktionale Organisationen großer Unternehmen können die Projektarbeit massiv konterkarieren. Funktionale Ziele zu Kosten und Qualität stimmen zu Beginn selten mit den Rahmenbedingung disruptiver Technologien überein. So ist das in der Markteinführung aufwendige Service-Konzept, die zunächst geringen Produktionsmengen oder das modifizierte logistische Vorgehen für die Fachabteilungen aus interner Sicht suboptimal und somit der Widerstand gegen das Projekt häufig groß. Auch ein durchsetzungsstarker Produktmanager hat dann ohne adäquate Unterstützung des Top-Managements keine Chance.
Management-Geschäftssteuerung
Aufgrund der Geschäftssystematik kann ebenso das Top-Management eine relevante Barriere für radikale Innovationen sein. Auch sie sind finanziell gesteuert. Innovationen mit großen Investitionen zeigen ihren Return on Invest meist erst nach mehreren Jahren. Der Cash Flow ist zunächst negativ. Die Innovation führt in der Entwicklungsphase zu hohen Kosten und und auch in der Einführungsphase mit hohen Marketing-Aufwendungen und niedrigen Umsätzen bleibt das Ergebnis negativ. Das Management steht unter hohem Ergebnisdruck und wird häufig relativ kurzfristig incentiviert z.B. nach Quartalen oder Geschäftsjahren. Eine Risikobereitschaft wird kurzfristig nicht belohnt bzw. incentiviert.
Veränderung ist möglich – Wege zur Überwindung der Barrieren
Der wichtigste Ansatz ist – vergleichbar zu einem Startup – die Schaffung von Freiräumen, d. h. eigenständige organisatorische Einheiten, die mit eigenen angepassten Geschäftszielen, vereinfachten Arbeitsweisen und Prozessen sowie ausreichend Ressourcen, operieren können. Eine Fehlertoleranz muss eingeschlossen sein. Die Zusammenarbeit mit Lead Usern und der Einsatz von agilen Projektweisen kann das Risiko des Scheiterns reduzieren.
Unternehmen wie Cisco verfolgen ein anderes Konzept – sie kaufen gleich die Startups mit ihren disruptiven Produkten, nachdem der Markteintritt erfolgreich vollzogen ist (mittlerweile mehr als 100 Unternehmen).
Der Artikel nimmt an der Blogparade von Inknowaction unter #blog2change teil.
1 Kommentar
Trackback URL Comments RSS Feed
Sites That Link to this Post